„Wann ändert sich hier im Reay Road Slum denn endlich mal was? Warum ist selbst nach so vielen Jahren nicht mal ein kleines Zeichen der Besserung zu sehen? Wie halten die Menschen das Leben in diesem Brennpunkt der Not nur aus? Gefangen im Kreislauf aus mangelnder Bildung, Mangelernährung, Krankheit und extremer Armut.“

Diese Fragen stelle ich mir bei meinem letzten Besuch in Mumbai im Oktober 22 nicht zum ersten mal. Diesmal aber mit einer gewissen Wut…oder Ratlosigkeit. Ich besuche Mumbai seit den frühen 1990er Jahren regelmäßig. Damals hieß Mumbai noch Bombay, war damals schon ein riesiger Ballungsraum und Indiens wichtigste Finanzmetropole. Hier gibt es ein riesiges soziales Gefälle, Superreiche und Superarme. Zahllose Slums, oft in direkter Nachbarschaft der prächtigen Villen der Reichen oder den Einkaufszentren der Mittelschicht. Mumbai also, eine weitere Stippvisite nach zwei Jahren Zwangspause durch Corona. 

Diesmal führt mich mal wieder ein Flugeinsatz mit drei Tagen frei vor Ort hierher, der Flugverkehr läuft erst langsam wieder an. Ich bin zunächst einmal als Pate zweier Kinder hier, treffe meine neuen Patenkinder Rapaka und Marshad in der Garden School. Ich bringe Kuscheltiere und paar Spielsachen mit. Beide freuen sich sichtlich, mein Patenmädchen überrascht mich durch ihre offene und fröhliche Art. Marshad, der Junge, ist etwas schüchtern, wohl angesichts des unbekannten weißen Typen der vor ihm steht.

 

Natürlich bin ich auch als Kontaktperson und Ansprechpartner der deutschen Förderer und Paten hier. Als Vorsitzender des Fördervereins bin ich zudem persönlich verantwortlich gegenüber unseren Sponsoren und den deutschen Steuerbehörden. Insbesondere in dieser Funktion stellen sich mir die eingangs gestellten Fragen, ehrlich gesagt auch wegen des ganzen zeitlichen Aufwands, der mit der ehrenamtlichen Arbeit für die Slumkinder und unseren Verein verbunden ist. Manchmal wünsche ich mir schon, dass unser Engagement einmal nicht mehr von Nöten sein wird.

Es wird beim wohl beim Wünschen bleiben. Aber zurück in den Slum. Im Stillen hatte ich ja schon gehofft, dass sich hier seit meinem letzten Besuch dieses Slums etwas zum Besseren gewandelt hätte. Zum Beispiel, dass endlich mal so etwas wie eine Versorgung mit sauberem Trinkwasser geregelt wird, man müsste doch nur paar Wasserleitungen verlegen, bei der Gelegenheit könnte man auch Abwasserrohre, eine Kanalisation unter die Erde bringen oder zumindest mal einen Versuch der Müllbeseitigung starten. Warum tut sich nichts? Wo ist der indische Staat, der stolz Raketen ins Weltall schießt, Atomwaffen besitzt und russisches Öl fürs Wirtschaftswachstum importiert? Ich suche nach Antworten. Ein Blick in den aktuellen „Development Report“ der Vereinten Nationen genügt. Wo steht Indien auf dem Weg zum Industrieland? Auf Rang 131 von 188 Ländern. Warum immer noch so weit unten? Die UN Studie verweist auf das vergleichsweise geringe Bruttoinlandsprodukt des 1,3 Mrd. Einwohner zählenden Staates.:  Indien: 3,2 Billion USD –Deutschland:  4,2 Billionen USD (2021). Indien fehlen schlicht die finanziellen Mittel für eine grundlegende Bekämpfung der Armutsursachen. Interessant ist hierbei zu wissen, dass ca. 90% der Beschäftigten Indiens im informellen, nicht staatlich reglementierten und erfassten Sektor arbeiten. Die Steuereinnahmen sind demzufolge gering, die Handlungsoptionen ebenso. Es gibt hier keine Absicherung gegen Krankheit und Unfälle, keine Rechtssicherheit und keinen Schutz vor Ausbeutung und Kinderarbeit. Dort wo der informelle Wirtschaftssektor, Privatleute oder Unternehmen bei der Übernahme sozialer Verantwortung wichtig wären, bremst staatliche Bürokratie und u.a. auch das Kastendenken. Warum soll ich den Armen helfen, sie erhalten im nächsten Leben doch eine weitere Chance.

Um es kurz zu machen – ich habe es mit eigenen Augen gesehen und in -nach wissenschaftlichen Kriterien erstellten -Studien und Berichten gelesen: Extreme Armut ist in Mumbai nach wie vor existent. Sie wird im aktuellen Armutsbericht der UN als multidimensionale Armut bezeichnet. Sie betrifft die Gesundheit, Bildung, die wirtschaftlichen Aspekte wie persönliche Ersparnisse und den Lebensstandard. In Indien leben demnach etwa  25% der Menschen unter der Armutsgrenze. Sie leiden unter den Folgen gesundheitsgefährdender Lebensbedingungen, Mangelernährung und einem geringen Bildungsniveau. Was das im konkreten bedeutet habe ich hier im Reay Road Slum vor Augen. Die Fotos können leider nur einen ungefähren Eindruck von der Enge, der Vermüllung, dem Gestank und den unsäglichen Lebensbedingungen in den Blechhütten der Slumbewohner vermitteln.

   

Ich kehre von meinem kurzen Rundgang  in die Vorschule Prem Dans, einem kleinen Gebäude inmitten des Slums zurück. Es empfangen mich 60 Mädchen und Jungen mit neugierigen Blicken, sie singen und führen wie immer stolz einen Tanz auf. Die Unterbrechung durch meinen Besuch dauert nur kurz, heute ist der allererste Prüfungstag. Die Kleinen schreiben ihre ersten Worte, ordnen Symbole und dürfen ein Tier ihrer Wahl zeichnen. Ein erster ganz kleiner Schritt auf dem Weg zu einer guten Bildung und einem selbstbestimmten Leben. Macht weiter ihr Kleinen, ihr schafft das, wir begleiten euch, versprochen!

 

Die Leiterin Prem Dans, Schwester Helen, berichtet mir später von der armutsbedingten massenhaften Migration der Landbevölkerung in die Metropolen Indiens. Auch das erklärt, warum sich die Elendsviertel nicht leeren. Schafft es eine Familie aus den Slums steht eine nächste vor der Tür.

 

(TF/ 12-2022)

Indien: Ein ewiges Talent – Anspruch und Wirklichkeit im Schwellenland – ein Besuchsbericht

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